Widerstände zu meinen Verbündeten machen Wayne Shorter, USA

Wayne Shorter 2006 [© Tom Beetz/Wikimedia Commons]

Wayne Shorter (1933-2023), legendärer amerikanischer Jazz-Saxophonist, Komponist und langjähriges Mitglied von Soka Gakkai, hat für seine Meisterschaft auf dem Saxophon weltweite Anerkennung erhalten, darunter sechs Ehrendoktorwürden und 11 Grammy Awards. Die New York Times nannte ihn den bedeutendsten lebenden Komponisten des Jazz. Im Alter von 88 Jahren vollendete er zusammen mit der fünffachen Grammy-Preisträgerin Esperanza Spalding seine erste Oper, Iphigenia, die er als Fortsetzung, nicht als Höhepunkt seines Lebenswerks betrachtet.


Können Sie uns erzählen, wie die Idee zu Iphigenia entstanden ist?

Ich habe bereits in der High School erste Versuche mit Komposition gemacht. Bevor ich zur US-Armee eingezogen wurde, arbeitete ich an einer Oper namens Die Gesangsstunde. Ich schrieb weiterhin Dinge in ein kleines Buch, das ich bei mir trug, aber niemandem zeigte. Dann erhielt ich zunehmend Einladungen, bei Big Bands als Saxophonist vorzuspielen. Ich wurde Mitglied von Art Blakeys Jazz Messengers und später von der Band von Miles Davis. Danach gründete ich meine eigene Band - Weather Report. Und immer weiter schrieb ich Kompositionen in mein kleines Buch.

Durch die buddhistische Ausübung habe ich erkannt, dass nichts umsonst ist. Alles in meinem Leben hängt mit meiner Entwicklung auf dem Weg zur Erleuchtung zusammen. Ich bekam zwar keine Plattenverträge, aus denen Hits entstanden, machte mir aber keine Sorgen. Ich habe einfach weitergemacht.

Dann lernte ich eine junge Frau namens Esperanza Spalding kennen. Ich dachte mir: „Sie ist wirklich jemand ganz Besonderes“. Wir trafen uns später in Europa bei einer Interview-Session wieder. Wir unterhielten uns und sie fragte: „Diese Oper, die du mit 19 Jahren begonnen hast, warum arbeitest du daran nicht weiter?“ Der Buddhismus hat mich gelehrt, alles, wozu wir uns entschließen, auch zu Ende zu führen. Wir dürfen nichts unerledigt lassen und nichts bereuen. Also beschloss ich an der Oper weiterzuarbeiten und Esperanza hat sich um die Finanzierung gekümmert.

Sie bot mir an, die Geschichte zu schreiben, das Libretto. Vor der Pandemie haben wir uns nach Portugal zurückgezogen und daran gearbeitet. Eine Zeit lang arbeiteten wir getrennt an unserem jeweiligen Anteil. Wir schrieben nur, ohne uns gegenseitig die Ergebnisse vorzuspielen. Dann begann die Geschichte zu wachsen.

Welchen Herausforderungen sind Sie auf dem Weg dorthin begegnet?

Mitten während der Arbeit an der Oper wurde ich so krank, dass ich ins Krankenhaus musste. An einem Punkt war ich dem Tod nahe. In diesem Zustand hatte ich seltsame Träume, aber ich konnte alle meine Freunde in der Soka Gakkai sehen und ich konnte hören, wie meine Frau Carolina Nam-Myoho-Renge-Kyo chantete. Sobald ich aufwachte, machte ich mich wieder an die Arbeit.

Wir bekamen von verschiedenen Opernhäusern Angebote zur Zusammenarbeit. Aber wir wollten keine Aufpasser. Esperanza fragte mich, was ich wirklich wolle. Ich sagte, ich wolle ein Unternehmen gründen, in dem echte Magie passiert. Das ist jetzt der Name unserer Firma: Real Magic. Wir arbeiten mit unglaublich kreativen Menschen, mit Produzent:innen, Dirigent:innen, Regisseur:innen und Architekt:innen zusammen. 

Iphigenia wurde im November 2021 in Boston durch die ArtsEmerson-Organisation[1] uraufgeführt. Wir waren jeden Abend ausverkauft. Sie sagten, sie hätten noch nie so lange Warteschlangen für eine Opernaufführung gesehen. Unter den Besucher:innen waren viele junge Leute. Niemand trug Smoking. Es war nicht wie früher, als das Opernpublikum sich für etwas Besseres hielt.

War es Ihnen wichtig, dass Iphigenia für alle Menschen zugänglich ist?

Ja. Auch früher schon wollten viele Komponisten, dass ihre Kunst zugänglich ist. Sie wünschten sich ein breit gefächertes Publikum in der Oper. Mozart ging auf die Straße, um seine Freunde einzuladen. Aber die Adeligen und Reichen bauten eine Trennwand auf zwischen der Kunst und der breiten Öffentlichkeit. Ich möchte ihnen sagen: „Steigt ab von eurem hohen Ross, öffnet die Türen und lasst mich rein.“ Mit Iphigenia wollte ich diese Tür aufbrechen. Es ist genug Platz für alle da.

Sie sind eine weltberühmte Jazzlegende. Haben Sie manchmal Zweifel oder stoßen Sie auf Hindernisse?

Ich hatte die Ehre, von der Rutgers University in New Jersey angerufen und gefragt zu werden, ob sie ihr neues Musikgebäude Wayne Shorter School of Music nennen dürfen. Es ist gerade im Bau. Sie haben mir eine Ehrendoktorwürde verliehen. Inzwischen habe ich sechs davon – unter anderem von der Juilliard School, dem New England Conservatory of Music und dem Berklee College of Music. Ich habe einen Freund, der beobachtet, wie sie mit diesem neuen Gebäude vorankommen. Das ermutigt mich. Ich habe nie darüber nachgedacht, einen Rückzieher zu machen, schließlich habe ich dieses T-Shirt, auf dem steht: Gib niemals auf! Im Krankenhaus, als ich kaum noch atmen konnte, habe ich eben leise Nam-Myoho-Renge-Kyo gechantet, um möglichst viel chanten zu können. Ich merkte, wie das viele Chanten mich davor bewahrte aufzuhören, aufzugeben oder auch nur zu zögern. Es geht um mehr als nur Hartnäckigkeit, Widerstandsfähigkeit, oder Trotz. Es geht um etwas viel Tieferes. Ich weiß, dass mir nichts und niemand diesen Geist nehmen kann,  wenn ich ihn nicht selbst aufgebe. Nichts außerhalb meiner selbst kann mich dazu bringen, ihn aufzugeben. Mir gefällt die Aussage von Daisaku Ikeda: „Glauben heißt, vor nichts Angst zu haben.“ Diese Worte sind in meinem Geist, in meinem Körper und in meinen Fingern. Ich sage: „Weitermachen!“ Das ist alles.

Was würden Sie jungen Menschen sagen, die gerade erst mit ihrer buddhistischen Ausübung beginnen und zu viel Angst haben, ihre Träume zu verfolgen?

Daisaku Ikeda rät, Dämonen und Teufel zu seinen Verbündeten zu machen. Er sagt nicht, dass man versuchen sollte, sie umzudrehen. Er sagte: „Macht sie zu euren Verbündeten.“ Der Weg dahin ist das Studium der buddhistischen Philosophie. Der Weg der Furchtlosigkeit ist nicht weit entfernt vom Weg der Angst, aber die beiden haben nichts miteinander zu tun. Wovor soll man denn Angst haben? Angst vor dem Unbekannten, vor Kritik, vor Ablehnung. Angst davor, durch Blicke oder Worte erniedrigt zu werden. Angst davor, von eurem Vorgesetzten, eurem Chef oder den Menschen in eurer Umgebung als verrückt oder dumm abstempelt zu werden. Die Angst, dass eure Ideen angegriffen werden. Die Angst vor dem Klang der eigenen Stimme, wenn ihr eure Meinung sagt. Die Angst, bestraft zu werden. All das ist uns in die Wiege gelegt worden. Manchmal bemerke ich, dass viele schon direkt aus der Wiege heraus gekidnappt wurden. Wie die Baby-Schildkröten, die es bis zum Meer schaffen müssen. Einige von ihnen schaffen es, aber viele auch nicht. Wir müssen es bis zum Meer der Weisheit des Lebens schaffen.

Mein einziger Entschluss ist, bonno-soku-bodai (Irdische Begierden sind Erleuchtung) mit Leben zu füllen – das heißt, etwas wagen. Und wenn du denkst, du kommst nicht mehr weiter, erneuere dein Leben nochmals und lebe wirklich. Lebe mit den vielen Dimensionen von Myoho und Renge. Ich bin Nam-Myoho-Renge-Kyo. Ich spiele nicht damit herum. Ich führe einen Tanz damit auf und ich mache Musik damit. Es ist etwas völlig anderes, ob man Nam-Myoho-Renge-Kyo lebt oder nur darüber spricht. Ich tue mein Bestes, um es in diesem Moment zu leben. Ihr jungen Leute, schaut mal nach, was in den Schriften Nichiren Daishonins steht und in Präsident Ikedas Vorlesungen.

Wir haben gehört, dass Sie die Oper Präsident Ikeda und seiner Frau gewidmet haben.

Sowohl diese Oper als auch mein Album Emanon. Seit ich Präsident Ikeda kenne, habe ich das Gefühl, dass er das Wesen und das Herz des kreativen Prozesses kennt. Er kann etwas vereinfachen, das im Leben schwer zu enträtseln scheint. Er weiß Bescheid darüber, was es zu verstehen und zu genießen gibt.

Was ist Ihre Definition von Erfolg?

Es bedeutet, so lange auf Hindernisse zu stoßen und sie zu überwinden, bis du schließlich noch mehr Hindernisse haben möchtest. Wie gesagt: Her damit. Her mit dem Widerstand. Denn in dem Punkt bin ich völlig klar: Ich weiß, dass das Chanten von Nam-Myoho-Renge-Kyo der Schlüssel ist, um Widerstände zu meinen Verbündeten zu machen.

Wenn du Erfolg zu deinem Verbündeten machst, ist alles aus. Dann bist du gefangen. Dann bist du reingefallen. Das ist so, als wärst du so lange in der Hölle gewesen, dass du glaubst, es sei der Himmel. Ich werde meinen vermeintlichen Erfolg nicht feiern – so nach dem Motto: „Ich habe, was ich will.“ Echter Erfolg bedeutet für mich immer „Irdische Begierden in Erleuchtung verwandeln“. Das ist mein Freund und Trainingspartner.

Einige sehr berühmte Menschen kommen zu unseren Soka-Gakkai-Bezirkstreffen. Sie kommen zu diesen Versammlungen, weil sie sich wünschen, dass ihr Name nicht nur mit Glamour, Erfolg und Geld verbunden wird. Sie möchten da drüber stehen. Und dafür müssen sie tiefer in ihr Leben eintauchen und diese buddhistische Philosophie studieren.

Ich möchte weiter studieren. Tatsächlich habe ich noch viel zu lesen. Ich möchte auf dem aufbauen, was ich erreicht habe, um noch mehr zu erreichen.

aus der World Tribune vom 1. Januar 2022, SGI-USA


[1] Eine Kultur- und Begegnungsstätte für zeitgenössisches Theater, Oper, Film und Gespräche, dem Emerson College in Boston angegliedert. (Anm. d. Ü.)