08.03.2023

Die Menschenwürde wahren Ein Gespräch mit Reverend James Lawson

Reverend James Lawson ist ein amerikanischer Anführer der Bürgerrechtsbewegung und ein prominenter Aktivist für soziale Gerechtigkeit. Sein enger Freund und Mitstreiter Dr. Martin Luther King Jr. bezeichnete ihn als den weltweit führenden Theoretiker und Strategen der Gewaltlosigkeit. Auch im Alter von 92 Jahren hält Reverend Lawson immer noch Vorträge und Seminare. Die Seikyo Shimbun, die Tageszeitung der Soka Gakkai, führte das folgende Interview mit Reverend Lawson über soziale Spaltungen, die Bürgerrechtsbewegung, Gewaltlosigkeit und die Soka Gakkai. Veröffentlicht wurde es am 1. Januar 2021.

2020 war ein Jahr, das die USA und die ganze Welt durch die Corona-Pandemie und Ereignisse wie die Präsidentschaftswahlen sowie die Black-Lives-Matter-Bewegung erschütterte. Dabei wurden die Spaltungen zwischen den Menschen immer deutlicher. Wie denken Sie darüber?

Zunächst ist es wichtig zu verstehen, dass das Selbstverständnis der westlichen Zivilisation problematisch ist. Sie beruht darauf, dass Soldaten im 15. Jahrhundert mit Kanonen über das Meer kamen und nach und nach die Welt eroberten. So vermittelten sie die Vorstellung, dass „Gewalt die stärkste Kraft auf der Welt ist und die größte Veränderung bewirkt“. Und noch im 19. Jahrhundert behauptete Karl Marx, dass Revolutionen immer mit Gewalt verbunden sind.

Ich glaube, dass die Wurzel von Rassismus, Sexismus und des Plantagenkapitalismus in dem von Gewalt getränkten Boden der westlichen Zivilisation liegt und in ihrem Streben nach Reichtum. Um wirklich Mensch zu sein, müssen wir lernen, die Verachtung anderer Menschen zurückzuweisen und Mitgefühl mit ihnen haben. Heute haben viele Leute vorgefasste, aber falsche Definitionen von „den anderen" – als hätten sie regelrecht ihren Verstand und ihr Mitgefühl aufgegeben. Wir müssen begreifen und anerkennen, dass diese „anderen“ genauso Menschen sind wie wir. 

Die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft zeigt, dass viele ihre eigene Menschlichkeit vergessen haben. Es scheint, als durchziehe ihre Seele ein Riss. Sowohl Schwarze als auch Weiße müssen ihre seelischen Wunden heilen. Die Heilung der menschlichen Seele ist eine Herausforderung für alle Weltreligionen.

Sie waren eine Vertrauensperson Dr. Martin Luther Kings Jr. und eine Schlüsselfigur der Bürgerrechtsbewegung. Was würden Sie als die treibende Kraft dieser Bewegung bezeichnen?

Der erste Hinweis auf die Bürgerrechte findet sich in der Civil Rights Bill von 1866. Nach der Emanzipationsproklamation und dem Amerikanischen Bürgerkrieg wurde dieses Gesetz endlich verabschiedet [Mit der Emanzipationsproklamation verkündete die Regierung Abraham Lincolns 1866 die Abschaffung der Sklaverei. Der Amerikanische Bürgerkrieg dauerte von 1861bis 1865 und wurde auch Sezessionskrieg genannt. Er fand statt zwischen den damaligen Nordstaaten der Vereinigten Staaten und den aus ihnen ausgetreten Südstaaten. Der Krieg entzündete sich vor allem an der Frage der Sklaverei, A. d. Ü.] Die Civil Rights Bill verlieh den Schwarzen die gleichen Rechte wie anderen Amerikaner:innen. 

Der Kampf um die Bürgerrechte hat also eine lange Geschichte. Ich persönlich nenne die Bürgerrechtsbewegung des 20. Jahrhunderts die „gewaltfreie Bewegung Amerikas“.

Als ich noch in der Grundschule war, verlor ich einmal die Beherrschung und schlug ein weißes Kind, das mich mit einem rassistischen Schimpfwort beleidigt hatte. Als meine Mutter davon erfuhr, sprach sie mit mir über meine Wut und sagte: „Gewalt ist keine Lösung.“ Sie sagte aber auch: „Gott zeigt uns durch Jesus, dass es einen besseren Weg gibt.“ 

Seitdem bin ich auf der Suche nach diesem besseren Weg. Ich habe mich geweigert, im Koreakrieg zu dienen und saß dafür mehr als ein Jahr lang im Gefängnis. Ich hatte mich entschlossen, niemals Gesetze zu befolgen, die zu Gewalt und Diskriminierung führen - in welcher Form auch immer.

In den 1950er Jahren setzte ich mich mit Mahatma Gandhis Philosophie der Gewaltlosigkeit auseinander. Er war überzeugt davon, dass die stärkste Macht der Menschheit nicht Gewalt, sondern Gewaltlosigkeit ist.

Die Energie, die den Menschen nährt, ist die Liebe. Es ist das Mitgefühl, das uns dazu bringt, Gesellschaften zu schaffen, in denen jede:r Zugang zu den gleichen Lebensbedingungen hat. Gedanken der Gewaltlosigkeit finden sich in allen Weltreligionen wieder. 

Mit unseren eigenen Ideen der Gewaltlosigkeit haben King und ich die Bewegung angeführt. Er sagte einmal: „Ungerechtigkeit ist überall eine Gefahr für die Gerechtigkeit.“ Wir forderten, dass Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit zu den fundamentalen Tugenden unseres Landes gehören sollten. 

Durch unsere Bewegung sind dann auch Hispanoamerikaner:innen, Inder:innen und andere Bevölkerungsgruppen aufgewacht. Sexuelle Minderheiten und Menschen mit Behinderungen forderten auf einmal: „Schluss mit der Diskriminierung!“ 

Die gewaltfreie Bewegung bewirkte einen phänomenalen gesellschaftlichen Wandel. Es war wie zur Zeit der Amerikanischen Revolution, die die Unabhängigkeitserklärung hervorbrachte [Damit werden die Ereignisse bezeichnet, die in den 1760er Jahren zur Loslösung der Dreizehn Kolonien in Nordamerika vom Britischen Empire und in Folge des sogenannten Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges zur Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten führten. In Anlehnung an die Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 ist der 4. Juli – als Unabhängigkeitstag – der Nationalfeiertag in den USA, A. d. Ü.]. 

Zum ersten Mal in der Geschichte aber wurde Amerika [in den 1960er Jahren, A. d. Ü] nicht durch Gewalt, sondern durch Gewaltlosigkeit verändert.

Die Soka Gakkai vertritt die Philosophie der menschlichen Revolution, nach der die Veränderung eines einzelnen Menschen letztlich zur Veränderung der Welt führen kann. Was halten Sie von dieser Idee?

Eine Säule der Gewaltlosigkeit ist die Wandlung der Menschen selbst. Wir nennen das auch Bekehrung. Die größte Kraft der Gewaltlosigkeit besteht darin, den Geist und das Leben der Menschen grundlegend zu verändern. Ich habe mit eigenen Augen das Bekehrungserlebnis vieler Menschen gesehen. Es war, als ob sie auf einmal aus der Dunkelheit ins Licht gingen. Die eigene persönliche Veränderung wird die Familie, die Gesellschaft, die Nation und die Welt verändern. Das ist die Philosophie der Gewaltlosigkeit. Als ein Mensch, der Gewaltfreiheit praktiziert, möchte ich dabei die Bedeutung des Dialogs hervorheben: Der Dialog ist die wichtigste Taktik der sozialen Gerechtigkeit. Ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht kann Menschen dazu bewegen, umzudenken und sich zusammenzuschließen. Eine solche Welle der Veränderung dehnt sich auf Politik und Wirtschaft aus.

SGI-Präsident Daisaku Ikeda besuchte die Vereinigten Staaten zum ersten Mal im Jahr 1960. Die amerikanische Bürgerrechtsbewegung war damals gerade in ihren Anfängen. Diese Reise war der Beginn seiner Bemühungen, die Philosophie des Nichiren-Buddhismus zu verbreiten, deren Kern die Achtung der Würde allen Lebens ist. Die Soka Gakkai ist inzwischen in 192 Länder und Regionen aktiv und bestrebt, Graswurzel-Dialoge an der Basis zu führen, die rassische und ethnische Grenzen überwinden.

Gandhi, King und Ikeda haben vieles gemeinsam. Erstens haben sie einen religiösen Glauben. Zweitens teilen sie die Überzeugung, dass sich dieser Glaube in ihrer Arbeit zeigen muss. Sie gehen einfühlsam auf andere zu und führen mit ihnen Dialoge. Drittens: Sie haben ihr Leben der Verwirklichung edler Ideale gewidmet. Ihnen gemeinsam ist die Liebe zu den Menschen. 

Herr Ikeda wird hoffentlich noch lange leben und seine bisherige Arbeit fortsetzen. 

Die Weltreligionen sollten dem Beispiel der Soka Gakkai folgen, Frieden und Gespräche zu ermöglichen, was die Menschen dazu inspiriert, ihre Vorbehalte gegenüber einer grundlegenden Wahrheit abzubauen und sich der menschlichen Familie anzuschließen. Für mich steht die Soka Gakkai auf der richtigen Seite der Geschichte; sie steht auf der Seite der Ewigkeit. 

Wie viele Menschen braucht es, um die Welt zu verändern? Im Grunde nicht irgendeine Mehrheit. Neuen wissenschaftlichen Studien zufolge wird sich die Welt verändern, wenn sich 3,5 Prozent der Menschen für eine gewaltfreie Bewegung engagieren. 

In Nashville habe ich Sit-in-Kampagnen organisiert, und nur etwa 5 Prozent der Bevölkerung haben diese tatsächlich mitgetragen. Aber sie haben damit die ganze Stadt verändert und das ganze Land in Bewegung gesetzt [Lawson bezieht sich dabei auf gewaltlose Proteste gegen Rassentrennung, die vom 13. Februar bis 10. Mai 1960 andauerten, A. d. Ü.]. 

Dies ist eine wichtige Lektion der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Mit anderen Worten: Wenn auch nur eine Handvoll Menschen handelt, können sie damit das Denken und die Geisteshaltung vieler anderer auf der ganzen Welt verändern.

James Lawson in Nashville, Tennessee, 2005 [Foto: Joon Powell]