Daisaku Ikeda

Eine andere Sichtweise

In der Türkei verbinden sich Ost und West, aber auch Nord und Süd auf einzigartige Weise. Mein Eindruck war immer schon, dass gerade diesem Land eine besondere Rolle dabei zukommt, die Harmonie der Menschheit zu fördern.

Als ich 1992 nach 30 Jahren zum ersten Mal wieder die Türkei besuchte, fand ich mich in Istanbul wieder, wo ich auf den Bosporus blickte. Westlich der Meerenge lag Europa, östlich davon Asien. Reisende aus dem Westen begegnen hier dem kulturellen Reichtum des Ostens, und Reisende von dort erleben den Westen, den Meister der Moderne. Für beide zeigt sich das Antlitz der Welt jeweils neu und anders.

In der heutigen Türkei liegt der Geburtsort des Dichters Homer. Alexander der Große durchquerte das Land auf seinen Eroberungszügen. Die klassische griechische Kultur entfaltete hier einst ihre volle Blüte. Zur Zeit des Byzantinischen Reichs war das Land der Mittelpunkt der christlichen Welt und später, unter den Osmanen, das Herz der islamischen Kultur.

Die Türkei ist ein Ort ungemein menschlicher Vielfalt, der diese kaleidoskopische Geschichte widerspiegelt. In den Städten und Metropolen sieht man Menschen mit arabischen und mongolischen Gesichtszügen und solche, deren Mienen an griechische Statuen erinnern; man sieht dort russische Gesichter und osteuropäische.

Es ist, als wolle die Türkei die gesamte Menschheit umschließen, sie vereinen und dabei ausrufen: „Westen, in meiner Umarmung darfst du der Osten sein! Osten, in meinem Zuhause darfst Du der Westen sein!“

Für den Historiker Dr. Arnold Toynbee (1889-1975) hatte die Türkei eine besondere Bedeutung: Die Ereignisse dort veranlassten ihn als Ersten, Geschichte über die eurozentrische Sicht hinaus zu betrachten. Als wir uns einmal in seiner Londoner Wohnung unterhielten, erzählte er mir, dass man ihn seinerzeit gezwungen hatte, seine Stellung an der Londoner Universität aufzugeben. Seine freimütigen Berichte über Ereignisse in der Türkei hatten „Menschen mit Vorurteilen gegenüber der Türkei erzürnt“.

Als Toynbee 1921 die Türkei besuchte, war er fast 32 Jahre alt. Er wollte den griechisch-türkischen Krieg beobachten, der dort schon seit zwei Jahren wütete. Zunächst verfolgte er die Verhältnisse aus griechischer Sicht, danach aus türkischer. Er ließ sich dabei von der Aufforderung des Heiligen Augustinus leiten: „Audi alteram partem“ (Höre auch die andere Seite an). Vor allem wollte er jener Seite Gehör verschaffen, „die am ehesten Gefahr lief, nicht angemessen gehört zu werden“. Oder wie er selbst sagte:

„In dem Konflikt zwischen Griechen und Türken waren die Griechen wieder einmal tonangebend. Die Griechen fanden Gehör im Westen und dessen Einfluss war vorherrschend auf der Welt. Die Sache der Griechen kannte ich genau und sie schien mir in guten Händen zu sein. Ich musste also unter allen Umständen verstehen, worum es den Türken ging.“

Toynbee fuhr in eine Stadt, in der türkische Zivilisten einem Massaker zum Opfer gefallen waren. Er sah unmittelbar das Leid der Flüchtlinge und war empört darüber, dass der Westen keinerlei Notiz von diesen Gräueln nahm. Seine Beobachtungen schrieb er genau auf und kabelte sie dem Manchester Guardian, einer angesehenen britischen Zeitung. Der Herausgeber der Zeitung war dann so mutig, Toynbees Berichte ungekürzt zu veröffentlichen.

Warum „so mutig“?

Jahrhundertelang hatte man die Türken im Westen nur als „unzivilisierte Barbaren“ gesehen. Zu allem Übel war die Erinnerung an die Schrecken von 1915 noch frisch, als die osmanischen Türken ein Massaker unter den Armeniern angerichtet hatten. Als nun Toynbees Berichte erschienen, fegte daher tatsächlich ein Sturm der Entrüstung über die Zeitung hinweg. Die Menschen beschimpften sie, schamlos Artikel zu veröffentlichen, die Verständnis für die „unsäglichen Türken“ zeigten. Für Toynbee waren dies Vorurteile gegenüber Muslimen. Dass die Zeitung sich diesen Vorurteilen nicht beugte, ist bis heute ein leuchtendes Beispiel bewundernswerter Standhaftigkeit.

Die Türken wiederum waren von dem Artikel tief beeindruckt. Sie staunten darüber, dass ein junger Engländer ein türkisches Flüchtlingslager besucht hatte, unvoreingenommen darüber berichtete, was er gesehen hatte, und dass eine britische Zeitung dies alles auch noch veröffentlichte. Zum ersten Mal erfuhr die Welt von ihrer Seite der Geschichte. Toynbee erzählte noch Jahre später sichtlich erfreut davon, wie die Türken sich um eine Ausgabe der Zeitung scharten und wie ihre Gesichter vor Aufregung glühten, als sie seinen Artikel lasen.

Wenn man sich nur auf Informationen des Westens verlässt – die die Dinge auch nur aus der westlichen Perspektive beleuchten – erfährt man nicht, wie die Welt wirklich ist. Es gibt eine afrikanische Sicht auf die Welt, eine des Mittleren Ostens, eine Lateinamerikas, und eine aus der Sicht verschiedener ethnischer Minderheiten. Die internationale Gesellschaft ist mehr als nur der Westen.

Auf seiner Rückreise von Istanbul begann Toynbee bereits im Zug damit, die Grundzüge dessen zu skizzieren, was später mit „Der Gang der Weltgeschichte“ sein Lebenswerk werden sollte. Aus einer globalen Perspektive entwickelte er seine wegweisende Geschichtstheorie. Sie wurde sein großartiges Geschenk an die Menschheit.

Zurück in Großbritannien zwang man Toynbee wegen seiner angeblichen Unterstützung der Türken schon bald, seine Stelle an der Londoner Universität aufzugeben. Er erzählte mir, dass er in den nun folgenden 33 Jahren seinen Lebensunterhalt mit Artikeln über internationale Themen für das Royal Institute of International Affairs, einer unabhängigen Forschungsorganisation, verdiente.

Der junge Toynbee wusste genau, dass es falsch war, Menschen mit Klischees zu belegen: Damit sprach man ihnen – so wie den Türken – das Menschsein ab. Es war ihm wichtig, stattdessen immer einzelne Türken kennenzulernen. Toynbee setzte seine Überzeugung in die Tat um, lernte Türkisch und freundete sich mit den einfachen Menschen an. „Wenn man einen Mitmenschen, egal welcher Religion, Nationalität oder Rasse, persönlich kennenlernt, so erkennt man unweigerlich, dass er genau so ein Mensch ist, wie man selbst.“

Ist die Gefahr, Menschen in Stereotypen zu pressen, seit Toynbees jungen Jahren geringer geworden? Ich glaube nicht. Tatsächlich hat die Verbreitung von Klischees und vorgefassten Ansichten wohl eher noch zugenommen: Ich nenne das die „Tyrannei der Bilder“. Viele Informationen, die unsere Welt überfluten, werden gezielt ausgewählt und zugeschnitten, um vorgefasste Ansichten und Stereotypen zu bestätigen.

Jeder von uns sollte sich unbedingt so wichtige Fragen stellen wie: Akzeptiere ich die Bilder, die mir präsentiert werden, ohne sie zu hinterfragen? Glaube ich unbestätigten Berichten, ohne sie zuerst genauer zu untersuchen? Habe ich mich unbewusst zu Vorurteilen hinreißen lassen? Weiß ich wirklich, worum es geht? Habe ich die Fakten selbst nachgeprüft? Bin ich vor Ort gewesen? Habe ich die Menschen getroffen, die daran beteiligt waren? Habe ich ihnen wirklich zugehört? Lasse ich mich von bösartigen Gerüchten beeinflussen?

Ich halte einen solchen „inneren Dialog“ für sehr wichtig. Deshalb können auch Menschen, die um ihre Vorurteile wissen, viel leichter mit Menschen anderer Kulturen sprechen, als solche, die davon überzeugt sind, von Vorurteilen frei zu sein.

Wenn wir genau darüber nachdenken, wird uns klar, dass die Menschen keine gebürtigen Türken oder Armenier sind. Sie sind auch keine gebürtigen Palästinenser oder Juden. Das alles sind nur Etiketten.

Jeder von uns kam auf die Welt als etwas einzigartig Wertvolles, als ein Mensch. Als unsere Mütter uns entbunden haben, dachten sie nicht: „Ich habe einen Japaner geboren“ oder „Ich habe einen Araber geboren.“ Ihr einziger Gedanke war: „Hoffentlich ist dieses neue Leben gesund und wird groß.“

In jedem Land ist eine Rose eine Rose, ein Veilchen ein Veilchen und Menschen sind Menschen, auch wenn ihre Namen sich von Land zu Land unterscheiden.

Vielleicht flüstern sich die Wolken und Winde zu, die hoch über den blauen Wassern des Bosporus auf die Menschen sehen: „Wacht endlich auf! Es gibt nicht die Amerikaner und nicht die Iraker. Es gibt nur diesen Jungen, der Bob heißt und zufällig in Amerika lebt. Es gibt nur diesen Jungen Mohammed, der zufällig im Irak lebt. Sie beide sind Kinder der Erde. Erwacht aus dieser Dummheit und aus dieser grausamen Angewohnheit, Hass und Vorurteile an die nächste Generation weiterzugeben.“

Wir müssen ein gemeinsames Bewusstsein entwickeln, dass wir alle Bewohner der Erde sind. Dieses Bewusstsein finden wir weder irgendwo in der Ferne noch auf dem Bildschirm unseres Computers. Es verbirgt sich in unserem Herzen und in unserem Mitgefühl mit dem Leiden anderer Menschen. Es ist der Appell an uns: „Egal wer du bist und egal woran du leidest: Solange du leidest, leide auch ich.“


aus einer Serie von Essays von Daisaku Ikeda, die 2004 auf Englisch in dem Buch One by One erschienen sind