Daisaku Ikeda 11.01.2023

Erklärung zur Krise in der Ukraine und zum Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen Seikyo Shimbun, 11. Januar 2023

Die Ukraine-Krise, die im Februar letzten Jahres ausgebrochen ist, dauert an, ohne dass eine Beendigung in Sicht ist. Die verschärften Feindseligkeiten haben großes Leid über die Bevölkerung gebracht und Infrastruktureinrichtungen zerstört, so dass eine große Zahl von Zivilisten, darunter viele Kinder und Frauen, in ständiger Gefahr leben muss. Mehr als 7,9 Millionen Menschen waren gezwungen, in Ländern in ganz Europa Zuflucht zu suchen, und etwa 5,9 Millionen wurden innerhalb des Landes vertrieben. 

Die Geschichte des 20. Jahrhunderts, die von den Schrecken zweier globaler Konflikte geprägt war, sollte uns lehren, dass es nichts Grausameres und Elenderes gibt als den Krieg.

Während des Zweiten Weltkriegs erlebte ich als Teenager die Bombardierung von Tokio. Bis heute erinnere ich mich genau daran, wie wir auf unserer verzweifelten Flucht durch ein Meer aus Flammen von Familienmitgliedern getrennt wurden. Wir erfuhren erst am nächsten Tag, dass sie in Sicherheit waren. Unauslöschlich hat sich mir auch das Bild meiner Mutter eingebrannt. Ihr Schluchzen schüttelte ihren ganzen Körper, als sie erfuhr, dass mein ältester Bruder - der eingezogen worden war und die Barbarei der Japaner miterlebt hatte - im Kampf gefallen war.

Wie viele Menschen haben in der anhaltenden Krise ihr Leben oder ihre Lebensgrundlage verloren, wie viele haben ihre eigene Lebensweise und die ihrer Familien plötzlich und unwiderruflich verändern müssen?

Zum ersten Mal seit vierzig Jahren hat der UN-Sicherheitsrat die Generalversammlung der Vereinten Nationen aufgefordert, eine Dringlichkeitssondersitzung im Rahmen der Resolution „Uniting-for-Peace“ (Vereint für den Frieden) einzuberufen. In der Folge hat sich UN-Generalsekretär António Guterres wiederholt mit den Staats- und Regierungschefs Russlands, der Ukraine und anderer Länder um eine Vermittlung bemüht.

Doch die Krise dauert an. Sie hat nicht nur die Spannungen in ganz Europa verschärft, sondern auch viele andere Länder ernsthaft in Mitleidenschaft gezogen, da die Lebensmittelversorgung eingeschränkt ist, die Energiepreise in die Höhe schnellen und die Finanzmärkte instabil sind. Durch diese Entwicklungen ist die Verzweiflung vieler Menschen auf der ganzen Welt, die bereits von den durch den Klimawandel verursachten extremen Wetterereignissen betroffen sind, sowie von dem Leid und dem Tod infolge der COVID-19-Pandemie, noch größer geworden.

Wir müssen unbedingt einen Durchbruch erzielen, um eine weitere Verschlechterung der Lage der Menschen weltweit zu verhindern, ganz zu schweigen von der ukrainischen Bevölkerung, die gezwungen ist, mit einer unzureichenden und unsicheren Stromversorgung zu leben, während sich der Winter verschärft und der militärische Konflikt zunimmt.

Ich fordere daher die dringende Einberufung eines Treffens der Außenminister:innen Russlands, der Ukraine und anderer wichtiger Länder unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen, um eine Einigung über die Einstellung der Feindseligkeiten zu erzielen. Ich fordere auch, dass ernsthafte Gespräche über ein Gipfeltreffen aufgenommen werden, das die Staatsoberhäupter aller betroffenen Staaten zusammenbringt, um einen Weg zur Wiederherstellung des Friedens zu finden. 

In diesem Jahr ist es 85 Jahre her, dass die Generalversammlung des Völkerbundes eine Resolution über den Schutz der Zivilbevölkerung vor Luftangriffen verabschiedet hat. Es ist auch der 75. Jahrestag der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen, in der das gemeinsame Versprechen zum Ausdruck kommt, eine neue Ära herbeizuführen, in der die Menschenwürde nie wieder mit Füßen getreten und missbraucht wird. 

Mit Hinweis auf die Verpflichtung zum Schutz des Lebens und der Menschenwürde, die dem humanitären Völkerrecht und den internationalen Menschenrechtsnormen zugrunde liegt, fordere ich alle Parteien auf, den gegenwärtigen Konflikt so schnell wie möglich zu beenden. 

Neben der Forderung nach einer schnellstmöglichen Lösung der Ukraine-Krise möchte ich betonen, wie wichtig es ist, Maßnahmen zu ergreifen, um den Einsatz oder die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen sowohl in der derzeitigen Krise als auch in allen künftigen Konflikten zu verhindern. 

In dem Maße, in dem sich der Konflikt in die Länge zieht und die nukleare Rhetorik zunimmt, ist das Risiko, dass diese Waffen tatsächlich eingesetzt werden, heute auf dem höchsten Stand seit dem Ende des Kalten Krieges. Selbst wenn keine der Parteien einen Atomkrieg anstrebt, besteht in der Realität, da sich die Atomwaffenarsenale in ständiger Alarmbereitschaft befinden, ein erheblich höheres Risiko eines unbeabsichtigten Einsatzes von Atomwaffen infolge von Datenfehlern, unvorhergesehenen Unfällen oder Verwirrungen hergerufen durch einen Cyberangriff. 

Im Oktober letzten Jahres jährte sich die Kubakrise, die die Welt an den Rand eines Atomkriegs brachte, zum sechzigsten Mal. Es war auch der Monat, in dem sowohl Russland als auch die NATO eine Reihe von Übungen für ihre nuklearen Kommandoteams durchführten. Angesichts dieser erhöhten Spannungen warnte UN-Generalsekretär Guterres, dass Atomwaffen „keine Sicherheit bieten, sondern nur Gemetzel und Chaos“[1] Das Bewusstsein für diese Realität muss die gemeinsame Grundlage für das Leben im 21. Jahrhundert sein.

Wie ich seit langem sage, laufen wir Gefahr, wichtige Fragen zu übersehen, wenn wir Atomwaffen ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der nationalen Sicherheit betrachten. In meinen insgesamt vierzig Friedensvorschlägen, die ich seit 1983 jedes Jahr herausgegeben habe, habe ich argumentiert, dass der zutiefst unmenschliche Charakter von Atomwaffen im Mittelpunkt jeder Diskussion oder Überlegung stehen muss. Ich habe auch die Notwendigkeit betont, der Irrationalität von Atomwaffen ins Auge zu sehen, da sie in der Lage sind, alle Beweise für unser individuelles Leben und unsere gemeinsamen Unternehmungen als Gesellschaften und Zivilisationen zu zerstören und unkenntlich zu machen. 

Ein weiterer Punkt, den ich hervorheben möchte, ist das, was man die negative Anziehungskraft nennen könnte, die Atomwaffen innewohnt. Damit meine ich die Art und Weise, in der eskalierende Spannungen im Zusammenhang mit dem möglichen Einsatz von Atomwaffen ein Gefühl der Dringlichkeit und der Krise erzeugen, welches die Menschen wie eine Art Gravitationskraft festhält und sie ihrer Fähigkeit beraubt, eine weitere Verschärfung des Konflikts zu verhindern. 

Während der Kuba-Krise schrieb der sowjetische Generalsekretär Nikita Chruschtschow (1894-1971) an US-Präsident John F. Kennedy (1917-1963): „Es mag ein Punkt kommen, an dem der Knoten so fest geknüpft ist, dass selbst derjenige, der ihn geknüpft hat, ihn nicht mehr zu lösen vermag, und dann wird es notwendig sein, diesen Knoten zu zerschneiden.“[2] Kennedy seinerseits sagte, dass die Welt nicht beherrschbar sein wird, solange es Atomwaffen gibt. Diese Äußerungen deuten darauf hin, wie sehr die Führer dieser atomar bewaffneten Staaten die damaligen Bedingungen als etwas empfanden, das sich ihrer Kontrolle entzog.

Sollte der Punkt erreicht sein, an dem der Abschuss atomar bewaffneter Raketen in Erwägung gezogen wird, wäre weder die Zeit noch die institutionelle Kapazität vorhanden, die Bürger:innen der Konfliktparteien - geschweige denn die Völker der Welt - in die Überlegungen einzubeziehen, wie die katastrophalen Schrecken, die sich anbahnen, abgewendet werden können.

Mit einer von Atomwaffen abhängigen Abschreckungspolitik versucht ein Staat, Kontrolle auszuüben und seine Autonomie zu behaupten. Doch wenn der Abgrund erst einmal erreicht ist und sich eine bodenlose Tiefe auftut, sind sowohl die Menschen in diesem Staat als auch die Menschen in der Welt gefesselt und jeglicher Handlungsfreiheit beraubt. Dies ist die Realität der Atomwaffen, die seit dem Beginn des Kalten Krieges unverändert geblieben ist. Es ist eine Realität, der sich sowohl die Atomwaffenstaaten als auch die von ihnen abhängigen Staaten in ihrer ganzen Härte stellen müssen.

Als mein Mentor Josei Toda (1900-1958), der zweite Präsident der Soka Gakkai, im September 1957 zur Ächtung von Atomwaffen aufrief, beschleunigte sich das atomare Wettrüsten rapide: Es hatte erfolgreiche Teststarts von Interkontinentalraketen gegeben, was bedeutete, dass nun jeder Ort der Erde ein potenzielles Ziel eines atomaren Angriffs war.

Auch wenn er die Bedeutung der wachsenden Bewegung, die ein Ende der Atomwaffentests forderte, zur Kenntnis nahm, war Toda davon überzeugt, dass eine grundlegende Lösung des Problems die Ausrottung der Denkweisen erforderte, die den Einsatz von Atomwaffen rechtfertigen würden. Als er seine Entschlossenheit zum Ausdruck brachte, „die Klauen des Bösen, die in den Tiefen solcher Waffen verborgen liegen, offenzulegen und herauszureißen“[3], drückte er seine Empörung über die Logik aus, die die Möglichkeit in Betracht zieht, die Weltbevölkerung solchen katastrophalen Schrecken auszusetzen.

Im Mittelpunkt seines Aufrufs stand die Forderung nach einer umfassenden Selbstbeschränkung der politischen Entscheidungsträger:innen, in deren Händen das Leben oder der Tod einer großen Zahl von Menschen liegt. Ein weiteres Ziel war, der in der Bevölkerung verbreiteten Resignation angesichts der Atomwaffen entgegenzuwirken, dem Gefühl, dass man die Welt mit seinem Handeln nicht verändern kann. Auf diese Weise wollte er den Bürger:innen den Weg ebnen, sich als Protagonist:innen für die Ächtung von Atomwaffen einzusetzen.

Toda bezeichnete diesen Aufruf als die wichtigste Anweisung, die er seinen Schüler:innen hinterließ. Ich verstand dies als Festlegung einer Linie, die nicht überschritten werden darf, als eine unverzichtbare Markierung für die Zukunft der Menschheit.

Um dies zu verwirklichen, habe ich bei meinen Treffen mit führenden Politiker:innen und Vordenker:innen aus verschiedenen Ländern immer wieder die absolute Notwendigkeit einer Lösung der Atomfrage betont. Gleichzeitig hat die Soka Gakkai International (SGI) mit dem Ziel, die Ära der Atomwaffen zu beenden, eine Reihe von Ausstellungen veranstaltet und auf der ganzen Welt Aufklärungsarbeit geleistet.

Im Jahr 2007, dem fünfzigsten Jahrestag von Todas Erklärung, rief die SGI die Dekade der Menschen für die Abschaffung von Atomwaffen ins Leben und setzte sich in Zusammenarbeit mit der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN), die etwa zur gleichen Zeit entstand, für ein rechtsverbindliches Instrument zum Verbot von Atomwaffen ein. 

Der Wunsch und die Entschlossenheit der Zivilgesellschaft, vertreten durch die Opfer der Bombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki, dass die Menschen in keinem Land jemals wieder die Tragödie des Einsatzes von Atomwaffen erleben müssen, kristallisierte sich 2017 heraus, als der Vertrag über das Verbot von Atomwaffen (TPNW) verabschiedet wurde. Der Vertrag ist 2021 in Kraft getreten. Für uns war dies ein Fortschritt auf dem Weg zur Verwirklichung der von Josei Toda hinterlassenen Aufforderung. 

Der TPNW verbietet umfassend alle Aspekte von Atomwaffen, nicht nur ihren Einsatz oder die Androhung ihres Einsatzes, sondern auch ihre Entwicklung und ihren Besitz. Auch wenn es den Staaten, die Atomwaffen besitzen, schwerfallen mag, den Vertrag anzunehmen, so sollte doch zumindest gemeinsam anerkannt werden, wie wichtig es ist, die katastrophalen Folgen des Einsatzes von Atomwaffen zu verhindern. 

Neben dem Abbau von Spannungen mit dem Ziel, die Ukraine-Krise zu lösen, halte ich es für äußerst wichtig, dass die Atomwaffenstaaten Maßnahmen zur Verringerung der nuklearen Risiken ergreifen, um sicherzustellen, dass weder jetzt noch in Zukunft Situationen entstehen, in denen die Möglichkeit eines Atomwaffeneinsatzes droht. In diesem Sinne habe ich im Juli letzten Jahres eine Erklärung an die Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrags (NVV) gerichtet, in der ich die fünf Atomwaffenstaaten aufforderte, sich umgehend und unmissverständlich dem Prinzip „No First Use“ (kein Ersteinsatz) zu verpflichten, das heißt, niemals als erste einen Atomschlag auszuführen. 

Bedauerlicherweise konnte auf der Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag im August kein Konsens über ein Abschlussdokument erzielt werden. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass die in Artikel VI des Vertrags niedergelegten Verpflichtungen zur atomaren Abrüstung nicht mehr gelten. Wie aus den verschiedenen Entwürfen des Abschlussdokuments hervorgeht, fanden Maßnahmen zur Verringerung des nuklearen Risikos breite Unterstützung, wie etwa die Verabschiedung von No-First-Use-Politiken und die Ausweitung negativer Sicherheitsgarantien, mit denen sich die Atomwaffenstaaten verpflichten, niemals Atomwaffen gegen Staaten einzusetzen, die keine besitzen.

Aufbauend auf diesen Überlegungen ist es absolut notwendig, den Zustand des nuklearen Nichtgebrauchs, der trotz allem seit den letzten 77 Jahren anhält, aufrechtzuerhalten und den Prozess der atomaren Abrüstung mit dem Ziel der Abschaffung der Atomwaffen voranzutreiben.

Es gibt bereits eine Grundlage, auf der man aufbauen kann, nämlich die gemeinsame Erklärung der Staats- und Regierungschefs der Vereinigten Staaten, Russlands, des Vereinigten Königreichs, Frankreichs und Chinas vom Januar dieses Jahres, in der sie bekräftigen, dass „ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals geführt werden darf“[4]. Während der Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag forderten viele Regierungen die fünf Atomwaffenstaaten auf, sich an ihre Erklärung vom Januar zu halten und an der Haltung der Selbstbeschränkung festzuhalten. Auch die Vertreter:innen dieser fünf Staaten verwiesen auf die gemeinsame Erklärung, als sie von ihrer Verantwortung als Atomwaffenstaaten sprachen.

Um die Verantwortung der Atomwaffenstaaten zur Selbstbeschränkung beim Einsatz von Atomwaffen am Beispiel eines Kreises zu beschreiben, wäre die in der gemeinsamen Erklärung zum Ausdruck gebrachte Verpflichtung, einen Atomkrieg zu verhindern, ein Bogen, der die Hälfte des Kreises umfasst. Dies allein reicht jedoch nicht aus, um die Bedrohung durch den Einsatz von Atomwaffen vollständig zu beseitigen. Meiner Meinung nach liegt der Schlüssel zur Lösung dieser Herausforderung darin, dass sich die Staaten zu „No First Use“ verpflichten. 

Während der Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrags arbeitete die SGI mit anderen Akteuren und NGOs zusammen, um eine Nebenveranstaltung bei den Vereinten Nationen abzuhalten, die sich auf die Dringlichkeit der Verabschiedung dieses Grundsatzes konzentrierte. Ich bin sicher, dass wenn Zusagen zum Verzicht auf den Ersteinsatz mit der gemeinsamen Erklärung vom Januar verknüpft werden können, dies den Bogen bilden wird, der den Kreis schließt und die nukleare Bedrohung eindämmt, die seit langem über der Welt schwebt. Auf diese Weise kann der Weg geebnet werden, um endlich Fortschritte bei der atomaren Abrüstung zu erzielen.

Im vergangenen November fand in Nepal ein Workshop des von mir gegründeten Toda Peace Institute statt, der einen solchen Paradigmenwechsel fördern sollte. Die Teilnehmenden waren sich einig, dass sich Pakistan gemeinsam mit China und Indien zum No-First-Use-Prinzip bekennen muss, um dieses Prinzip in der südasiatischen Region zu verankern. Sie waren sich auch einig, wie wichtig es ist, eine internationale Debatte über den Verzicht auf den Ersteinsatz anzustoßen, damit alle atomar bewaffneten Staaten Schritte in diese Richtung unternehmen können.

Dies erinnert mich an die Ansichten von Dr. Joseph Rotblat (1908-2005), der viele Jahre lang Präsident der Pugwash Conferences on Science and World Affairs war. In dem Dialog, den wir gemeinsam veröffentlicht haben, sprach er von einer Einigung über den Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen und sagte, dies sei der wichtigste Schritt zur vollständigen Abschaffung dieser Waffen, und forderte einen entsprechenden Vertrag. 

Prof. Rotblat zeigte sich auch zutiefst beunruhigt über die Gefahren, die einer von Atomwaffen abhängigen Abschreckungspolitik innewohnen, welche in einem Klima der gegenseitigen Angst wurzelt. Die grundlegenden Strukturen der atomaren Abschreckung haben sich in den Jahren seit unserem Dialog im Jahr 2005 nicht verändert, und die gegenwärtige Krise hat die dringende Notwendigkeit für die Menschheit, diese Politik zu überwinden, noch deutlicher vor Augen geführt.

Die Verpflichtung zum Verzicht auf den Ersteinsatz ist eine Maßnahme, die Atomwaffenstaaten selbst dann ergreifen können, wenn sie ihre derzeitigen Atomwaffenarsenale vorläufig beibehalten; sie bedeutet auch nicht, dass die Bedrohung, durch die heute weltweit vorhandenen rund 13.000 Atomsprengköpfe schnell verschwinden würde. Ich möchte jedoch betonen, dass eine solche Politik, sollte sie sich unter den atomar bewaffneten Staaten durchsetzen, die Möglichkeit bietet, das Klima der gegenseitigen Angst zu beseitigen. Dies wiederum kann die Welt in die Lage versetzen, ihren Kurs zu ändern - weg von einer auf Abschreckung basierenden atomaren Aufrüstung, hin zu einer atomaren Abrüstung, um eine Katastrophe zu verhindern. 

Rückblickend war die Weltlage während der Ära des Kalten Krieges durch eine Reihe scheinbar unlösbarer Krisen gekennzeichnet, die die Welt erschütterten und Schockwellen der Unsicherheit und des Schreckens auslösten. Und doch gelang es der Menschheit, Auswegstrategien zu finden und durchzuhalten. 

Ein Beispiel dafür sind die Gespräche über die Begrenzung strategischer Waffen (SALT) zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Die Absicht, diese Gespräche zu führen, wurde am Tag der feierlichen Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrags im Jahr 1968 bekannt gegeben. Dieser war als Reaktion auf die bitteren Lehren aus der Kubakrise ausgehandelt worden. Die SALT-Verhandlungen waren die ersten Schritte, die die USA und die UdSSR unternahmen, um das atomare Wettrüsten auf der Grundlage ihrer nuklearen Abrüstungsverpflichtungen gemäß Artikel VI des NVV zu bremsen. 

Für die an diesen Gesprächen Beteiligten war es nicht leicht, der Nuklearpolitik, die als ausschließliches Vorrecht des Staates entwickelt worden war, Grenzen zu setzen. Dennoch war dies eine Entscheidung, die für das Überleben nicht nur der Bürger:innen ihrer jeweiligen Länder, sondern der gesamten Menschheit unerlässlich war. Die Namensgebung dieser Verhandlungen - SALT - erinnert mich an diesen komplexen Zusammenhang. 

Die Menschen von damals, die den Schrecken des drohenden Atomkriegs am eigenen Leib erfahren haben, brachten eine historische Vorstellungskraft und Kreativität hervor. Jetzt ist es an der Zeit, dass alle Länder und Völker zusammenkommen, um diese schöpferischen Kräfte erneut zu entfesseln und ein neues Kapitel der Menschheitsgeschichte aufzuschlagen. 

Der Geist und die Zielstrebigkeit, die zur Zeit der Entstehung des NVV herrschten, stimmen mit den Idealen überein, die den Entwurf und die Annahme des TPNW motiviert haben, und ergänzen diese. Ich rufe alle Parteien nachdrücklich dazu auf, Wege zu erkunden und zu erweitern, um die auf der Grundlage dieser beiden Verträge unternommenen Anstrengungen miteinander zu verknüpfen und ihre Synergieeffekte für eine atomwaffenfreie Welt zu nutzen.


aus: Seikyo Shimbun, 11. Januar 2023


[1] United Nations, „Secretary-General’s Remarks for the International Day for the Total Elimination of Nuclear Weapons”, aufgerufen am 11. Januar, 2023, https://www.un.org/sg/en/content/sg/speeches/2022-09-26/secretary-generals-remarks-for-the-international-day-for-the-total-elimination-of-nuclear-weapons

[2] Office of the Historian, „Telegram from the Embassy in the Soviet Union to the Department of State”, aufgerufen am 11. Januar 2023, https://history.state.gov/historicaldocuments/frus1961-63v06/d65.

[3] Josei Toda, „Declaration Calling for the Abolition of Nuclear Weapons”, aufgerufen am 11. Januar 2023, https://www.joseitoda.org/vision/declaration.

[4] The United States Government, „Joint Statement of the Leaders of the Five Nuclear-Weapon States on Preventing Nuclear War and Avoiding Arms Race”, aufgerufen am 11. Januar 2023, https://www.whitehouse.gov/briefing-room/statements-releases/2022/01/03/p5-statement-on-preventing-nuclear-war-and-avoiding-arms-races.