Bedingte Entstehung

Bedingte Entstehung

Alles im Leben ist durch zahllose Wechselbeziehungen miteinander verbunden. Oder anders gesagt: Niemand ist eine Insel. Das buddhistische Konzept der Bedingten Entstehung stellt fest, dass nichts isoliert und unabhängig vom übrigen Leben existiert. Shariputra, ein Schüler von Buddha Shakyamuni, veranschaulichte dieses Prinzip der Bedingten Entstehung anhand von zwei aneinander lehnenden Bündeln Schilfrohr. Beide stehen nur so lange aufrecht, wie sie sich gegenseitig stützen. Nähme man eines der Schilfrohrbündel weg, fiele das andere um. Dies verdeutlicht, dass ohne die Existenz des einen auch das andere nicht bestehen kann. Ein eng miteinander verflochtenes Netz gegenseitiger Verbindungen besteht aber nicht nur in der Natur, sondern auch zwischen Mensch und Umwelt, zwischen Einzelpersonen und der Gesellschaft und zwischen Menschen untereinander. Wir bestehen und entstehen also nur aufgrund unserer Beziehung mit anderen Menschen und Lebewesen. Alles Dasein unterstützt sich gegenseitig, ist miteinander verbunden und bildet einen lebendigen Kosmos. Dies ist das Konzept, wie der Mahayana-Buddhismus das natürliche Universum betrachtet. Diese Sichtweise ist eine wichtige Hilfestellung in der heutigen Zeit, in der viele Menschen – überfordert von der Vielfalt der Globalisierung – meinen, ihr Glück und ihre Sicherheit könnten nur durch einen Rückzug in die Isolation oder in den Nationalismus gewährleistet werden. Jedoch ist Sicherheit durch Isolation eine Illusion. Das Konzept der Bedingten Entstehung verdeutlicht, dass es unmöglich ist, in Frieden zu leben, wenn ringsherum Krieg herrscht. Wenn wir Nam-Myoho-Renge-Kyo zum Gohonzon rezitieren, verbinden wir uns mit dem tiefsten Rhythmus des Universums. Wir verbinden uns mit der Quelle des Daseins, aus der alle Menschen und Lebewesen schöpfen, verbinden uns mit der unendlichen Lebenskraft. Und sehr schnell spüren wir: Beim Chanten vor dem Gohonzon lassen sich Gefühle der Einsamkeit, der Trennung, der Isolation und auch der Angst oder des Grolls nur schwer aufrechterhalten. Je länger wir Nam-Myoho-Renge-Kyo rezitieren, umso deutlicher nehmen wir wieder unsere Verbundenheit wahr – die Verbindung mit anderen Menschen und mit unserer natürlichen Umgebung wird auf diese Weise sozusagen „wiederbelebt“ bzw. „geöffnet“. So beginnt die Kraft von Nam-Myoho-Renge-Kyo in unserem Leben zu wirken und erlaubt uns, unser Bewusstsein zu erweitern und unsere Perspektive auf das Leben zu verändern. Dies wirkt sich auch auf unser Handeln aus. Wenn beispielsweise klar wird, dass ich mit dem eigentlich verhassten Arbeitskollegen sehr tief verbunden bin, dass er genau wie ich die Buddhanatur besitzt und dass wir hier eine wichtige Gemeinsamkeit haben, ändert sich ganz natürlich mein Verhalten ihm oder ihr gegenüber. Ich werde diesem Menschen anders entgegentreten und mich anders mit ihm befassen. Dieses veränderte Verhalten – mein Verhalten – ist der Ausgangspunkt für Frieden in der Welt. Das Konzept der Bedingten Entstehung bedeutet ganz praktisch: Es ist unmöglich, unser eigenes Glück auf dem Unglück eines anderen Menschen aufzubauen. Genauso bedeutet es aber auch, dass wir durch unser mitfühlendes und konstruktives Handeln die Welt um uns herum jederzeit positiv beeinflussen können. Das Leben ist wie ein Trampolin: Springt man auf der einen Seite hinein, so hüpft auch die Person, die auf der anderen Seite steht, hinauf. Wenn man dieses Prinzip begreift, kann man alle Beziehungen, in denen man lebt – seien sie familiär oder freundschaftlich, beruflich oder privat, gut oder schlecht – als Impuls für das eigene persönliche Wachstum nehmen. So können wir unsere einzigartige Rolle und jeweilige Aufgabe im Leben erfüllen. Auf einer tieferen Ebene sind wir nicht nur mit jenen, die uns räumlich nahe sind, sondern mit allen Lebewesen verbunden. So sagte Daisaku Ikeda bei einer Reise nach Deutschland: „Es gibt ein schönes nigerianisches Sprichwort, das lautet: ‚Weil du bist, bin ich.‘ Mit anderen Worten: Dank deiner Existenz kann ich mein Leben führen. Wie einfach diese Worte auch sein mögen, sie besitzen eine Parallele zum buddhistischen Prinzip der Bedingten Entstehung. Und in einem Lied, das viele Japaner schätzen, heißt es: ‚Ich weine, wenn du traurig bist, du tanzt in meiner Freude.‘ Es scheint, dass in Afrika ein starkes Lebensgefühl vorherrscht, das von reichen Freundschaften und harmonischem Zusammenleben durchdrungen ist. Wir in der SGI möchten weiterhin den wunderbaren Kreis der Menschlichkeit auf der Grundlage der Achtung für die Würde des menschlichen Lebens erweitern und deshalb Begegnungen zwischen Freunden auf der ganzen Welt fördern und den Menschen dabei helfen, die guten Seiten des jeweils anderen kennenzulernen.“ (Essays & Reden von Daisaku Ikeda, S. 169 f.)


aus: Impulse für die tägliche Ausübung. Buddhismus heute



Zum Weiterlesen und Vertiefen:

Die Weisheit zur Erschaffung von Glück und Frieden,  Teil 2.1, S. 284 – 286

Humanismus – Ein buddhistischer Entwurf für das 21. Jahrhundert, S. 109 – 111, S. 118 und S. 132 f.

Reden & Essays von Daisaku Ikeda, S. 169 f.