Körperlich verschieden, im Geiste vereint

Körperlich verschieden, im Geiste vereint

„Wir sind das Volk“, riefen Woche für Woche hunderttausende DDR-Bürger im ganzen Land und protestierten gegen die damaligen politischen Verhältnisse. Dieser Zusammenhalt und das gemeinsame Ziel einer demokratischen Neuordnung führten in den Jahren 1989/1990 zu einer der bedeutendsten friedlichen Revolutionen in der Geschichte der Menschheit. Damit zeigte sich, was Menschen bewirken können, wenn sie sich in ihren Werten und Zielen einig sind.

Dies entspricht dem buddhistischen Prinzip von „körperlich verschieden, im Geiste vereint“ (Jap. itai doshin). So heißt es in den Schriften Nichiren Daishonins: „Wenn die Einstellung von ‚körperlich verschieden, im Geiste vereint‘ unter den Menschen vorherrscht, werden sie all ihre Ziele erreichen. Wenn sie jedoch körperlich gleich, aber im Geiste uneins sind, können sie nichts Bedeutendes bewirken.“ (SND-1, 766)

Wichtiger Bestandteil des Prinzips ist zunächst der Aspekt „körperlich verschieden“, also die ausdrückliche Anerkennung der Tatsache, dass jeder Mensch seine ureigene Persönlichkeit und Aufgabe hat. Wir müssen unsere Einzigartigkeit also keinesfalls unterdrücken oder leugnen. Die Individualität ist vielmehr etwas, das die Gesellschaft bereichert und für ihr Gedeihen wünschenswert ist.

„Im Geiste vereint“ kann auch als gemeinsamer Wertekonsens verstanden werden. Für uns als Mitglieder der SGI besteht er in dem unbedingten Glauben an die Buddhaschaft aller Menschen. Weil wir den Wunsch des Buddha teilen, allen Menschen diesen höchsten Zustand zugänglich zu machen, nehmen wir ihn als unsere persönliche Aufgabe an und setzen uns in diesem Sinne aktiv für seine Verwirklichung ein. Dadurch wiederum können wir unsere eigene Individualität noch mehr zum Strahlen bringen. Die Aspekte von „im Geiste vereint“ und „körperlich verschieden“ stärken sich also gegenseitig. Unseren Wertekonsens kann man im weiteren Sinne als eine unbedingte Bejahung der Würde jedes Lebens und der unveräußerlichen Menschenrechte bezeichnen.

Gerade im Westen liegt uns viel an unserer Individualität und Unabhängigkeit. Schwierig wird es, wenn es darum geht, uns zusammenzuschließen. Denn wir neigen dazu, die eigenen individuellen Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen und damit die Unterschiede zu betonen. Ein trennendes Bewusstsein zeigt sich in negativen Gefühlen wie beispielsweise Geringschätzung, Abneigung, Neid, Empörung, Ungeduld, Sturheit, Frustration usw. Es führt letztlich zu Isolation, Ausgrenzung, Konflikten und Trennung. Mit solchen Gefühlen können wir weder glücklich werden noch ein Vorhaben realisieren, das intensive Kooperation erfordert. Natürlich sind uns nicht alle Menschen gleichermaßen sympathisch. Doch wenn wir immer weiter durch das Rezitieren von Nam-Myoho-Renge-Kyo unseren eigenen Lebenszustand erhöhen und unbeirrt gemeinsame Aktivitäten für Kosen-rufu durchführen, können wir unsere Denkweise verändern, unerwartet wunderbare Eigenschaften an anderen Menschen entdecken und über alle Unterschiede hinauswachsen. Die Anerkennung der Vielfalt ist letztlich der Boden, auf dem die Vielfalt überhaupt gedeihen kann.

Daisaku Ikeda erläutert hierzu: „Wer die Anhaftung an das eigene Selbst überwindet und die Kraft des Mystischen Gesetzes aus sich hervorbringt, kann sich von diesen negativen Tendenzen befreien (…). Der Daishonin ermahnt uns auch, ‚so unzertrennlich zu werden wie die Fische und das Wasser, in dem sie schwimmen‘. (SND-1, 266) Das bedeutet, uns allen Menschen nah und verbunden zu fühlen – allen, mit denen wir gemeinsam für Kosen-rufu arbeiten (…), aber genauso auch allen Menschen, mit denen wir im Laufe unseres Lebens in Verbindung kommen. Personen, welche die Tendenz überwunden haben, ständig die Andersartigkeit der anderen in den Mittelpunkt zu stellen, verkörpern mehr und mehr die Wirkweise des Mystischen Gesetzes, das alle Phänomene des Universums verbindet und harmonisiert. Mal spielen sie selbst eine führende Rolle und übernehmen aus freien Stücken Verantwortung für Kosen-rufu. Ein anderes Mal arbeiten sie im Hintergrund, um die Hauptpersonen zu unterstützen. Egal welche Fähigkeiten sie verkörpern – ihr Leben pulsiert energisch im Rhythmus des Mystischen Gesetzes, der Kraft, die dem Universum zugrunde liegt.“ (Das Prinzip Hoffnung, Bd. 2, 139)


aus: Impulse für die tägliche Ausübung. Buddhismus heute



Zum Weiterlesen und Vertiefen:

Die Schriften Nichiren Daishonins, Bd. 1, S. 266 und S. 766

Die Welt der Schriften Nichiren Daishonins, Bd. 1, S. 122 – 137

Das Prinzip Hoffnung, Bd. 2, S. 139